Er sitzt draussen auf dem Ledersofa in der brütenden Wüstenhitze und redet und lacht vor sich hin. Er nimmt sich kaum Zeit für einen Zug von seiner Zigarette. Den Schokoladendrink, den er in der Hand hält, hat er vergessen. Wenn die Schleusen in seinem Kopf mal wieder nicht dicht halten wie jetzt, ergiessen sich all die wirren Gedankensplitter in den Kakteengarten vor ihm: seine vier Brüder, sein Sommer als Tennislehrer auf Long Island, seine Zeit bei Ralph Lauren, seine Mushroomtrips mit Frank in der kalifornischen Wüste, seine Gedichte, die er nur noch selten auswenig rezitieren kann, die ihm abgerungenen Monate als mormonischer Missionar in Idaho. Das 40-jährige Langzeitgedächtnis zwängt sich in Bandwurmsätze ohne Anfang und ohne Ende. Es amüsiert ihn meistens und bringt ihn nur noch selten zum Weinen. Die Stimmen in seinem Kopf machen ihn nicht mehr paranoid, und wenn, dann nur mild. Er hat sich an sie gewöhnt in den zwei Jahren und endlich Frieden mit ihnen geschlossen.
Heute beachtet er sogar Little Bear. Der Hund stellt sich vor ihn hin und verlangt Aufmerksamkeit. Das macht er immer seltener. Er hat gelernt, dass es zwecklos ist. Aber jetzt besteht Hoffnung, merkt das Tier, und es wird kurz auf den Kopf getäschelt.
Ich beobachte Jackson von der Seite. Er sieht besonders gut aus heute. Obwohl er schmutzig ist, die dunklen, dichten Haare sich zu einem Mohawk aufgestellt haben, da er viel im Bett liegt, er mit Rasieren schon lange nicht mehr belästigt werden kann, ist ihm seine Schönheit nicht abhanden gekommen. Sie hat sich verändert, ist tiefer geworden mit ihren Rissen, aber sie ist auch jetzt noch etwas vom ersten, was sowohl Frauen wie Männer an ihm wahrnehmen.
Ich mag die Abstecher durch die Geografie seines Lebens und setze mich nun immer zu ihm, wenn er gesprächig ist. Ich bin mittlerweile die einzige Person, die sich in diesem Dschungel noch zurecht findet und die einzelnen Puzzleteile zu einem sinnmachenden Ganzen zusammenfügen kann. Ich bin auch die einzige, die es noch versucht. Auf einem dieser Abstecher hab ich wieder zu rauchen angefangen. Einfach, um mit ihm etwas zu teilen, um gemeinsam zu einer Zigarettenpause draussen auf dem Sofa aufzubrechen, die paar Schritte zu gehen, sich das Päckchen zu reichen, sich gegenseitig die Zigarette anzustecken und sich den Aschenbecher zuzuschieben. Zu Essen hat er schon länger aufgehört. Ich habe nicht aufgehört, ihm Menuvorschläge zu machen. Ich mag die Alltäglichkeit der Frage. Er antwortet jedes Mal mit einem Nein, das klingt als wärs das erste und rein temporärer Natur. Wenn er nicht im Bett liegt, esse ich neben ihm. Vom Sofa aus schweift der Blick über die kahlen Berge im Norden, welche in den frühen Morgenstunden auf der anderen Seite des Highways rote Schatten werfen. Nachts sind etwa sieben Meilen im Westen die dünn gesäten Lichter von Joshua Tree auszumachen. Weiter weg, in nordöstlicher Richtung, funkelt eine geballtere Ladung Licht: die Marine Basis von Twentynine Palms. Nach dem 11. September 2001 ist der Zugang schwieriger geworden, und meine Lust auf eine erschlichene Besichtigungstour im Ice Cream Truck der Nachbarin hält sich seit dem Krieg in Grenzen.
Auf der hinteren Veranda sitzen wir nur noch selten, weil sie weiter vom Schlafzimmer entfernt ist. Sie ist riesig, die Grösse eines mittleren Gartenrestaurants. Von hier aus sieht man in den heissen Wüstennächten den Vollmond über den Felsformationen des Nationalparks aufsteigen. Der helle Wüstensand erleuchtet die Kakteen, Kojoten und Wüsten-Schildkröten von unten. Der Joshua Tree National Park fängt gleich hinter dem Haus an. Die ungeteerte Strasse, welche vom Highway 62 direkt zum Haus führt, endet da. Keiner wird sich in Zukunft zwischen mich und die Berge zwängen können. Diese Tatsache und die fünf Acres, auf denen das Haus steht, garantieren, dass das Anwesen bis in alle Ewigkeit privat genug gelegen ist. Meine Ewigkeit zumindest. Auf der hinteren Veranda sitzen wir nur manchmal nachts, wenn ich Jackson mit der Aussicht auf einen dicken, fetten Vollmond von seinen gewohnten Bahnen abbringen und umleiten kann, nachdem er sich ein Getränk aus dem Kühlschrank geholt hat. Oder am späteren Nachmittag, wenn diese Seite des Hauses ein paar Grad weniger Hitze verheisst. Das Umleiten funktioniert nicht oft. Demenz und Abwechslung gehen nicht zusammen. Es ist für ihn schon schwierig genug, sich für ein Getränk zu entscheiden. Seit ein paar Tagen ist die Auswahl grösser geworden; alle Drinks sind sorgsam nach möglichst hohem Kaloriengehalt ausgewählt. Zur Schokoladen-Kalorienbombe gibts nun noch Apfelsaft und Starbucks Mocca Frappuccino, Coke und Dr. Pepper. Wenn er selbst zum Kühlschrank geht, fällt ihm die Entscheidung leichter, als wenn ich ihm sage, was da ist. Die Liste ist immer zu lang für sein Hirn. Nach einer langen Pause, und oft nach mehrmaligem Nachfragen, wählt er meist etwas vom Ende der Liste. Mocca Frappuccino wählt er nur, wenn es ihn sieht, obwohl es sein Lieblingsgetränk ist. Er kann den Namen nicht mehr mit dem Fläschchen verbinden.
Vor ein paar Tagen hat Jacksons Vater, John, die zwei letzten Kisten mit Jacksons Habseligkeiten vorbeigebracht, die er beim Räumen seiner Garage in Gallup, New Mexico gefunden hat. Kleider in der einen, alte Fotos, Briefe, das Jahrbuch von 1982 von der Gallup Highschool und einige getippte Seiten mit Gedichten in der anderen. Ich überfliege die Gedichte kurz. Auf den ersten Blick scheint nichts Neues dabei zu sein, was ich nicht schon lange zusammengesammelt und archiviert habe. Ich lege sie zu den Fotos und den Briefen; ich werde mir später alles genauer durchlesen. Als ich die Kleider aus der Kiste packe und zum auslüften auf die hintere Veranda hänge, springt mir eine Lederjacke ins Auge. Ich probiere sie an und stelle mir vor, wie ich die Jacke nach Jacksons Tod tragen werde. Sie passt wie angegossen. Obwohl schlank, ist er breiter als ich, auch wenn ich runder bin. Er ist noch nicht tot und du weidest schon in seinen Sachen, denke ich, das ist vielleicht armselig. Ich verwerfe den Gedanken wieder. Es ist in Ordnung, die Jacke anzuprobieren und sie für gut zu befinden; ich werde sie wie eine Rüstung tragen. Ich schaue mir nun die drei paar Jeans in der Kiste genauer an. Levis Grösse 32/34 – sehr gut. Er kann engere Hosen gebrauchen. Vor zwei Monaten habe ich ihm drei Paar gerippte Jeans 33/34 gekauft. Gestern hab ich sie alle enger genäht. Grösse 32/34 passt nun perfekt, sogar mit Windeln.